Fes
Vor der Stadtbesichtigung fuhr der Bus zu einem Aussichtspunkt nahe der Meriniden-Gräber in den Hügeln im Norden von Fes. Dort oben befinden sich alte Mauer- und Gebäudereste, denen wir jedoch keine weitere Beachtung schenkten. In den Sandsteinfelsen sind viele Höhlen auszumachen. Waren das einmal Felsenwohnungen? Die Gegend allein ist schon interessant, aber der Blick von dort oben über die Medina von Fes ist atemberaubend. In vielen Reiseführern wird geschrieben, dass die Stadt inmitten einer weiten Ebene liegt. Offensichtlich liegt sie eher auf sieben Hügeln, wie Rom oder Istanbul.
Nachdem wir uns einen Überblick verschafft hatten, setzte uns der Bus vor einem der zahlreichen Stadttore ab. Durch ein kleines, unbedeutendes Tor betraten wir die mittelalterliche Welt Fes el Bali, so vollkommen anders als die Welt außerhalb der alten Stadtmauer. Die Medina, so wie eigentlich alle arabischen Medinas, ist in viele Viertel aufgeteilt. Gleich neben einem Tor findet man eine Moschee, um die sich die Geschäfts- und Wohnhäuser gruppieren. Wird der Weg zur Moschee zu weit, gibt es wieder eine Moschee. Die alte Medina von Fes besitzt vierhundert Moscheen, die meist nur zu sehen sind, wenn man direkt vor dem Eingang steht. Knapp eine halbe Million Menschen sollen in der Medina Fes el Bali auf engsten Raum wohnen und arbeiten. Wie viele genau es sind, weiß niemand.
Die Menschen leben wie eh und je von Handwerk und Handel. Der Transport der Waren erfolgt per Karren, Esel oder Muli durch die engen Gassen. Wenige Menschen besitzen einen Roller. Die Medina Fes el Bali ist wohl die älteste Medina der Welt. Sie hat schon manche Katastrophen wie Brände oder Erdbeben überstanden, weil sie so konstruiert ist, das es zu jeder Zeit Zugang zum Wasser gibt und sich die Häuser gegenseitig abstützen. Die Gassen sind zum Teil überdacht, was der Klimatisierung dient. Man kann die Medina wohl mit einem Ameisenhaufen vergleichen: alles hat seinen Platz und ist für etwas gut.
Von außen ist den Fassaden nicht anzusehen, dass die meisten Häuser Atrien besitzen, um die sich die Wohnräume gruppieren. Diese Häuser werden Riads genannt. Manches Riad misst mehrere hundert Quadratmeter Wohnfläche. Solche großen Riads können sich aber nur reiche Bewohner leisten, manche wurden zu Hotels oder Restaurants umgebaut.
Wir liefen kreuz und quer durch die Medina Fes el Bali, sahen in die kleinen Läden und Handwerksstuben und staunten über die vielen kunstvoll gestalteten Details von Türen, Vordächern oder Toren. Uns fiel auf, dass es überall sehr sauber ist. Überall ist gefegt, es liegt nirgendwo Müll herum.
Irgendwann betraten wir durch eine winzige Türe ein Haus und erklommen die schmale Treppe zwei Stockwerke nach oben. Als wir um die Ecke kamen öffnete sich ein großer Raum mit Terrasse. Der Raum gehört zu einer Lederfabrik, die einer Kooperative angehört. Decken, Wände und Fußboden sind hinter Lederwaren verschiedenster Art nicht mehr zu sehen. Die Außenwand ist offen und als wir heraus sahen, erblickten wir das berühmte Gerberviertel Chuwwara. Der ganze große Hof ist mit gemauerten Bottichen bedeckt. Die Bottiche der linken Ecke sind weiß. In ihnen wird gegerbt, und zwar nicht mehr mit Ammoniak und Rinden, wie bis vor kurzem noch, sondern mit ungelöschtem Kalk und Taubenkot. Jetzt im Winter stehen die Männer mit Gummistiefeln in den Lösungen. Im Sommer, wenn es heiß ist, erledigen sie ihre Arbeit mit nackten Beinen. Eine dicke Ölschicht soll verhindern, dass die Haut zu sehr angegriffen wird. Die Häute von Ziegen und Schafen wird hierher geliefert und zuerst in den Bottichen mit der Kalklösung gegerbt, mehrere Tage lang.
Anschließend werden die gegerbten Häute gewaschen, später auf die verschiedenen Farbbottiche verteilt. Wie seit Urzeiten wird mit Naturfarben gefärbt. Auf meine Frage, ob die Arbeiter auch einmal ihre Arbeitsplätze tauschen, bekam ich ein Nein. Das heißt, ein Gerber darf nicht waschen oder färben oder umgekehrt. Ein Färber für Rot darf nie eine andere Farbe übernehmen, denn er hat keine Ahnung von einer der anderen Farben. Die Arbeiter machen ihr ganzes Leben lang den gleichen Job.
Wie es aussieht, wird erst nach dem Färben das restliche Fleisch von den Häuten gekratzt, für mich eigentlich unverständlich. Nochmal zu den Farben: alle Farben werden in den Bottichen angerührt, einzige Ausnahme macht das Gelb. Die Farbe Gelb wird aus Safran gewonnen. Da Safran sehr teuer ist, wird die Farbe sparsam mit Hand auf die Häute aufgetragen, die anschließend in der Sonne ausgebreitet trocknen.
Entgegen unserer Erwartung stinkt es nicht, wie überall zu lesen ist. Es kann nicht allein daran liegen, dass es im Winter nicht so warm ist. Jedenfalls roch es bei unserem Besuch kein bisschen unangenehm. Hängt das vielleicht mit dem Wechseln des Gerbmaterials und ein wenig mehr Sauberkeit zusammen?
Nachdem wir den äußerst interessanten Erläuterungen eines Verantwortlichen der Lederfabrik gelauscht hatten, durften wir uns in den Verkaufsräumen umsehen. Man betonte, dass wir kaufen könnten, auf keinen Fall kaufen müssten. Tatsächlich hielten sich die Verkäufer wohltuend im Hintergrund und traten nur in Erscheinung, wenn man Interesse für etwas zeigte. Jacken, Taschen, Babuschen und vieles mehr stapeln sich in den vielen Räumen. Das Leder ist superweich und zum Teil sogar waschbar. Die Preise sind fair.
Nach dem Besuch des Gerberviertels spazierten wir weiter durch die Gassen der Medina, die zum Teil schon komplett restauriert wurden. Wenn restauriert wird, dann unbedingt im alten Stil, so dass das jahrhundertealte Gesamtbild nicht verändert wird. Das wird sehr genau überwacht und das ist auch richtig so. Wir entdeckten eine alte Karawanserei, in der heute Kunsthandwerk verkauft wird. Für den Häutemarkt blieb keine Zeit, aber wahrscheinlich ist das sowieso nichts für europäische Augen.
Am Nachmittag kehrten wir zu einer Teepause ins Restaurant Nejjarine ein. Unser Reiseführer meinte, dass dieses Restaurant von der 1. Restaurantfamilie in Fes geführt wird. Das Restaurant befindet sich in einem sehr schönen Riad, typisch marokkanisch. Der größte Speiseraum ist nach oben hin offen und drei Etagen hoch. Um ihn herum gruppieren sich kleinere Séparées. Leider geht es ziemlich laut zu, da viele Reisegruppen dieses Restaurant aufsuchen. Es ist allerdings auch nicht so groß, dass es unangenehm wäre.
Das nächste Ziel war eine der Schulen in der Medina Fes el Bali. Die Medersa El Cherratine wurde im 17. Jahrhundert gebaut und bot als größte Schule ihrer Zeit Platz für 150 Schüler, die zum Teil zu dritt in winzigen Kammern schliefen. Kleine Fenster gibt es nur zum großen Atrium mit dem Brunnen in der Mitte oder zu den zwei offenen Treppenhäusern. Das Gebäude ist drei Etagen hoch und man kann sehr schön sehen, dass für die Ausgestaltung die drei traditionellen Baustoffe verwendet wurden: Gips, Zedernholz und die bunten gebrannten Keramikfliesen. Die Schule steht heute leer und wird als Museum genutzt.
Seit Stunden waren wir in der Medina Fes el Bali unterwegs und es gab immer wieder neues zu sehen. Die Welt draußen war weit weg und wir fühlten uns inzwischen wie ein Teil der Altstadt im orientalischen Mittelalter. Die Handwerkssparten teilen sich jeweils eigene Viertel, die Drechsler, die Weber, die Messingwerkstätten usw. Dazwischen findet man immer wieder kleine Bäcker oder Lebensmittelhändler, die für die Versorgung im Viertel sorgen.
Das Abendessen nahmen wir wieder in einem Riad ein. Unser Reiseführer bog in eine sehr enge, dunkle Gasse ab: glatte, schmucklose Wände, hin und wieder eine kleine Türe, sonst nichts. Wir setzten unsere Schritte durch eine der kleinen Türen, durch die Licht schien. Ein paar Stufen führen in die Tiefe. Schwere Holztüren, Stuck und Mosaike bilden den Eingang in das typisch marokkanische Restaurant, von dessen Decken wunderschöne, große, fein ziselierte Messinglampen hängen. Leider weiß ich den Namen des Riads nicht. Das marokkanische Essen ist hervorragend und wurde mit dem gewohnten Minztee abgeschlossen, den es zu jeder Gelegenheit gibt. Gegessen haben wir von der blau-weißen Keramik, die in Fes hergestellt wird. Man findet diese Keramik in vielen Restaurants Marokkos.
Gestärkt und mit ausgeruhten Füßen steuerten wir das letzte Ziel in Fes an, eine Weberei. Hier stellte man uns vor allem die Agavenseide vor, von der wir noch nie etwas gehört hatten. Dafür werden die sehr starken Fasern aus den Agavenblättern gezogen und zu einem glänzenden Faden verarbeitet. Dieser kann in allen Farben eingefärbt und allein oder mit anderen Materialien im Mix verwebt werden. Die Endverarbeitung des Tuches entscheidet, wie weich es zum Schluss ist, von etwas fester bis kuschelweich. Es entstehen unglaublich schöne Tücher aus Agavenseide, die Ausgangsprodukte für Kleidungsstücke, Kissen oder was auch immer sind. Am besten zur Geltung kommen die Farben und Muster in den Tüchern selbst. Die Vielfalt und Schönheit der Tücher ist so groß, dass man sich nicht für eines entscheiden kann. Auch hier blieben wir frei in unseren Entscheidungen, niemand wurde zu etwas gezwungen oder von den Verkäufern belästigt.
Es war ein langer Tag. Der Regen hatte heute fast aufgehört, so dass wir die Medina Fes el Bali in Ruhe und unter ein paar wärmenden Sonnenstrahlen erleben konnten. Durch ein anderes Tor, als wir die Medina betreten hatten, verließen wir dieselbe wieder, wo der Bus auf uns wartete. Als alle irgendwann im Bus zurück waren, fuhren wir zum Königspalast, wo wir noch ein paar Fotos schossen. Die großen bronzebeschlagenen Türen mit den typisch marokkanischen Mustern, die sich in die orientalischen Bögen einfügen, sind ein schönes Fotomotiv. Der Königspalast wird auch heute noch bewohnt, ist aber für die Öffentlichkeit geschlossen.
Zum Abschluss des Tages fuhr der Bus noch einmal an den nördlichen Rand von Fes, wo wir am Morgen schon waren, um den Panoramablick zu genießen. Diesmal fuhren wir noch weiter nach oben, auf die Hügelspitze. Vom dortigen Aussichtspunkt ist der Blick noch viel atemberaubender als schon am Morgen. Es ist ein unglaublich schöner Blick auf die Medina von Fes und die Hügellandschaft, in der sie liegt.
Voll mit den Eindrücken verschiedenster Art, die wir heute in Fes aufnahmen, kamen wir in das Hotel „Golden Tulip“ zurück. Fes ist für uns die schönste aller marokkanischen Städte. Die Lage, die schiere Größe der Medina, die Originalität, das seit Jahrhunderten fast unveränderte Leben, die Menschen, die Abwechslung, das alles ergibt ein einzigartiges Bild, welches wohl so nur in Fes zu finden ist.